Kleine Wahlbetrachtung einmal anders – mal über den Tellerand der Prozente und Zehntel

Die politischen Rahmenbedingungen im Frühjahr 2012 sind geprägt von extremen Ansehens- und Vertrauensverlusten, vor allem bei den großen Volksparteien.

Den Volksparteien gelingt es immer weniger, Wahlberechtigte zu mobilisieren.
Der extreme Vertrauensverlust der Politik spiegelt sich im Verlust von über 1 Mio. Wähler ins Nichtwählerlager in den letzten 10 Jahren wieder.

Die kleinen Parteien kokettierten früher immer mit ihrer Koalitionsfähigkeit und Funktion als Mehrheitsbeschaffer. Heute wird immer mehr ihr Sinn, ihre Existenznotwendigkeit hinterfragt.

Die nachfolgende Aufstellung der prozentualen Anteile aller Wahlberechtigten in NRW für die Stimmen der Parteien veranschaulicht, wie gering mittlerweile der Anteil wahlberechtigter Bürger ist, die die parlamentarische Demokratie noch legitimieren. Gute 40 % der Wahlberechtigten (Essen 41,2 %; WK 67 44,6%) befinden sich im Lager der Nichtwähler.

In Essen wählten über 1,2 % (3.154 Personen) ungültig. Dass hier bewusstes Handeln vorliegt ist abzulesen bei der Betrachtung der ungültigen Erststimmen, die
in Essen sogar bei 1,4 % oder 3.618 Personen lag.

Bei den Wahlen zum Landtag in NRW wählten am 13. Mai 2012 ………………………
…………40,4 % der Wahlberechtigten niemanden in Essen
…………23,0 % der Wahlberechtigten die SPD
…………15,5 % der Wahlberechtigten die CDU
………… 6,7 % der Wahlberechtigten die Grünen
………… 5,1 % die Wahlberechtigten die FDP
………… 4,6 % der Wahlberechtigten die Piraten
………… 1,5 % der Wahlberechtigten die Linke

Die Hauptaufgabe der Parteien wird die Wiederherstellung des Ansehens der parlamentarischen Demokratie werden müssen. Auf Dauer kann nicht hingenommen werden, dass über 40 % der Wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger glauben, dass das politische System ihnen nichts bringt und sich deshalb nicht in die freiheitliche Gesellschaft einbringen.
Die Faktoren, die zu Vertrauensverlusten geführt haben sind endlich offen zu diskutieren und erfordern werteorientiertes Verhalten und Handeln.

Der Kampf der Parteien um die Nichtwähler wird themen- und zielorientierte Profile und Kompetenz aufzeigen müssen. Es lohnt sich mehr Nichtwähler zu mobilisieren statt durch Parteienstreit sie weiter in die Emigration zu treiben.

Die SPD hat über kommunales Vertrauen, gut gemachte Lokalpolitik und personelle Kompetenz immer der Verdrossenheit entgegengewirkt. Als die Faktoren wegfielen sind nicht nur in Essen und NRW, sondern auch bundesweit die Werte gesunken und die großen Nichtwählerpotenziale entstanden.
Die Sozialdemokratisierung der Themen und Inhalte der Politik auf allen politischen Ebenen ist dringend notwendig. Die NRW Minderheitskoalition war gezwungen, geschlossen aufzutreten, weil für Projekte Zustimmung aus der Opposition notwendig war. Nun, mit der klaren Mehrheit, entfällt dieser Zwang. Profilierungsbedarf hat vor allem die SPD NRW, weil ihre Ziele in so manchen ihrer Ressorts kaum sichtbar wurden.

Bei klarer Abgrenzung (inhaltliche, personelle und werteorientiertes Handeln) zu Grün und auch anderen Gruppierungen entstehen keine neuen Wählerpotenziale für kleinere Parteien. Grüne Sozialstruktur liegt im Kern in der Gründergeneration 1980/83. "Neue-Grüne" sind kaum nachgewachsen, weil die Zahl der absoluten Wähler fast gleich geblieben ist. Dies zeigt auch der Vergleich der absoluten Zahlen von Grün, FDP und anderen Splittern in Essen über die Jahre hinweg.

Die Erneuerung der FDP kann nur von NRW und Schleswig-Holstein ausgehen. Ob diese Landesverbände im politischen Alltag die Ideen aufbringen, den Liberalismus von Klientelpolitik und vom Geruch des Lobbyismus zu befreien, um ihm neuen Sinn und Inhalt zu geben, wird vielfach bezweifelt. Misslingt der Versuch, könnte die FDP ihre traditionelle Rolle als Mehrheitsbeschaffer zu Koalitionen und endgültig verlieren.

Zu den Piraten haben die Parteien unterschiedliche Abwanderungen zu verzeichnen (SPD -90.000; CDU -80.000) Die “Beraubten“ werden mit aller Macht versuchen, den Piraten schon bei der Bundestagswahl die Beute wieder abzujagen. In welchem Umfang das gelingt, hängt auch davon ab, wie sich die Piraten in den Landtagen zurechtfinden und vor allen Dingen Antworten geben können. Probleme aufzeigen allein genügt nicht. Hinzu kommt: Piraten sind in der Sozialstruktur einseitig besetzt. Extrem jung, extrem ab 60 Plus, kaum Frauen, kaum inhaltliche Kompetenz und ein Sammelbecken für besondere Personenprofile z.B. Rechte oder schon in Parteien und Organisationen gescheiterte Normaden. Es ist ausdrücklich zu wiedersprechen, dass bei Funktionären der Piraten keine organisationspolitische Erfahrung vorliegt. Eine große Zahl war schon irgendwo tätig, mehr oder weniger erfolgreich gescheitert.

Bei der NRW-Wahl sind die Linken schwer gefleddert worden. Sie weiß, dass es um ihr Überleben geht. Dennoch tut sie alles, um ihre Lebensdauer zu verkürzen. Ob hinter den Personalquerelen auch eine Restauration der alten DKP-SED-PDS Kader am Ende erfolgt, muss man beobachten und auch an Personen festmachen. Die Wählerinnen und Wähler spüren die morbide Lust dieser Partei am eigenen Untergang und fliehen enttäuscht.

Die CDU, die in der Ära Rüttgers und jetzt Röttgen schwer beschädigt wurde, wird voll beschäftigt sein sich, personell und inhaltlich zu erneuern. Frau Merkel hat Norbert Röttgen nach der desaströsen Wahlniederlage knallhart den politischen Stecker aus der Dose gezogen und ihn als ihren Energiewendeminister stillgelegt.

Die NRW-SPD steht unter bundesweiter Beobachtung. Mit ihrer rot-grünen Koalition wird die erste Hälfte ihrer Amtszeit im Schatten der Bundestagswahl 2013 und der Kommunalwahl 2014 verbringen. Ihr Tun und Lassen wird für den Nachweis herhalten müssen, ob Rot-Grün auch geeignet ist, die Probleme unserer Republik zu lösen.

Ergebnisse, Zahlen und Analysen für Essen sind auf der Homepage des Wahlamtes und im RIS der Stadt Essen zu finden.
OR(1) Der Anruf – Juni 2012